Kurzgeschichte

Batschem. Sohn.

Sie warten! Er weiß es. Vor ihm die Frau vom Amt, die die Frage gestellt hatte. Hinter ihm vier erwartungsvolle Augen auf ihn gerichtet.

 

Es verwundert ihn selbst, dass er nicht sofort „bale“ gesagt hatte. Er erinnert sich, dass er in der neuen Sprache „ja“ sagen muss. Die Sache ist doch klar. Er will es. Er will es ganz sicher. Und trotzdem…

 

Es klopft an der Tür. Er hört noch, „ja?“, und dann das Öffnen der Türe….

 

Genau jetzt sieht er sie wieder vor sich. Sie war schon lange nicht mehr so deutlich aufgetaucht vor seinem inneren Auge. Sie weinte. Hielt sich die Hände vor die Augen. Leise, in einem gleichtönigen Sing-Sang wiederholte sie ständig: „ne! ne! ne!....“. Selbst jetzt aus der Distanz zerreißt es ihm fast das Herz.  Er sieht den Onkel neben ihr. Sein Arm auf ihrer Schulter. Tröstend und umklammernd, sie zurückhaltend. Er war damals wie benebelt. Er hatte sich angestrengt bemüht,  das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen. Ein einziger klarer Gedanke war aufgetaucht: ´Ich darf nicht weinen, nicht jetzt, nicht so lange sie mich noch sieht´.

 

Gerade jetzt fällt ihm auch ein, wie sein Vater früher immer gesagt hatte: „batsche kalonom  – mein großer Sohn“.

 

Sein Vater. Manchmal unwirsch zu den Nachbarn. Manchmal streng mit ihm und seinen Geschwistern. Aber kaum hatte er etwas lauter geschimpft, war er kurz danach gekommen und hatte ihm über den Kopf gestreichelt. Wie um es wieder gut zu machen. Er hätte sich keinen besseren Vater vorstellen können. Selbst wenn er viel Arbeit mit den Tieren und auf den Feldern gehabt hatte, hatte er ihn immer zur Schule geschickt. „Es ist wichtig, dass du viel lernst, damit du einmal eine gute Arbeit bekommst.  Was soll ich denn erreichen? Ich kann nicht lesen und schreiben. Wie soll ich denn mit den großen und wichtigen Leuten reden. Aber du, wenn du gebildet bist, dann weißt du dich später einmal zu wehren.“

 

Er war damals schon gerne in die Schule gegangen. Es hatte ihm gefallen, was er dort alles lernen konnte. Allerdings hatte er auch öfter gedacht, dass sein Vater ihn vielleicht für die Arbeit brauchen könnte. Manchmal war dieser fast während des Abendessens eingeschlafen, so müde war er gewesen. Und für die Schule hatten die Eltern Hefte und Stifte kaufen müssen. Geld, das die Familie auch für das alltägliche Leben hätte brauchen können.

 

Doch dann schien es besser zu werden. Der Vater begann beim Militär zu arbeiten. „Da kann man gutes Geld verdienen! Außerdem braucht das Land Leute, die mithelfen, sich gegen diese Verbrecher zu stellen.“ Er wusste, wen der Vater meinte. Die, die alles verboten hatten. Die Musik und jegliche Unterhaltung. Seine Mutter durfte nur noch mit Burka, einem Ganzkörperschleier,  aus dem Haus gehen. Mit Begleitung eines männlichen Verwandten. Seinen Schwestern war die Schule verboten.

 

„Hast du keine Angst?“, hatte er seinen Vater gefragt. „Nein! Ich arbeite hier in unserem kleinen Dorf. Helfe nur im Hintergrund. Wir kämpfen ja nicht direkt. Keine Sorge Sohn!“, hatte er geantwortet.

 

Seine Mutter hatte wieder öfter gelacht. Es hatte wieder abwechslungs-reicheres Essen gegeben. Sogar sein Vater hatte nicht mehr so müde gewirkt, obwohl er jetzt noch früher aufstehen hatte müssen, um die Tiere zu versorgen.                                                               

 

Sein Onkel hatte mitgeholfen so gut er konnte. Letztendlich hatte er sich anstecken lassen von der entspannten Fröhlichkeit, die ins Haus eingezogen war.

 

Das Telefon im Zimmer läutet. Er wird aus seinen Gedanken gerissen. „Hallo, guten Tag, …“  Er ist erleichtert, dass sie nun noch etwas beschäftigt sein wird. Im Hintergrund hört er auch die beiden plaudern … 

 

… als nächstes taucht in seiner Erinnerung das Schreien seiner Mutter auf. Er hatte zuerst nicht verstanden, warum sie schrie. Langsam, ganz langsam hatte er begonnen zu begreifen. Sein Vater war tot! Erschossen! Von wem? Niemand wusste es. Er wurde von einem Busfahrer am Straßenrand gefunden. Die Polizei hatte ihn nach Hause gebracht.

 

Das war drei Monate vor dieser Nacht passiert. Er hatte eine Hand an seiner Schulter gespürt. Er hatte die Augen geöffnet und seinen Onkel gesehen: „Pst, leise! Weck deine Geschwister nicht. Komm. Schnell!“ Er hatte sich schlaftrunken, vorsichtig von seiner Matte gewälzt, die er mit seinem Bruder geteilt hatte. Was wollte sein Onkel von ihm? Jetzt mitten in der Nacht? Es musste etwas Wichtiges sein. Es war ihm kalt, ohne der Decke und der Körperwärme seines Bruders. Als er an der Feuerstelle vorbei kam, in der noch die Glut vom Abendessen ein wenig Wärme verbreitete, spürte er einen Klumpen im Hals. Am liebsten hätte er sich sofort wieder zusammengerollt und weitergeschlafen. Seltsame Geräusche vor dem Haus ließen ihn jedoch vor die Türe treten. Am Straßenrand stand ein LKW. Zwei fremde Männer flüsterten mit seinem Onkel. Er sah gerade, wie sein Onkel ihnen ein Kuvert übergab. Die Beiden standen darüber gebeugt. Dann nickten sie dem Onkel zu und sagten: „u bajad bia ad. zûd!  – Er soll kommen. Schnell!“

 

Seine Mutter war wie erstarrt neben dem LKW gestanden. Sie hatte ihn nicht angeschaut. Obwohl er seine Jacke über die Schultern gehängt hatte, spürte er von innen ein Frösteln aufsteigen.

 

Dann war alles sehr schnell gegangen. Sein Onkel war auf ihn zugekommen und sagte so leise, dass er sich hatte anstrengen müssen, richtig zu verstehen: „Wir haben alles geregelt. Du kommst in Sicherheit. Einer ist schon tot. Dich bekommen sie nicht, das würde deiner Mutter das Herz brechen! Du fährst mit denen mit. Wenn du sicher angekommen bist, suchst du Arbeit. Wenn Gott will, sehen wir uns wieder. Gott schütze dich. Jetzt umarme schnell noch deine Mutter und dann steig ein!“ Der Onkel hatte ihn fest an sich gedrückt. Als er sich, wie in Trance,  seiner Mutter zuwandte, sah er gerade noch eine Träne im Auge des Onkels aufblitzen. Die Mutter tauchte aus ihrer Erstarrung und stürzte sich auf ihn. „Es muss sein. So ist es das Beste. Bring dich in Sicherheit.“ Sie fügte hinzu: „dar panahe khodawand bashi! - Gott schütze dich!“ Sie zitterte und schluchzte. Fest klammerte sie sich an ihn. „mâdar? …“ – „Mutter? …“ Weiter war er nicht gekommen. Einer der beiden fremden Männer hatte sie angezischt: „Seid still! Wollt ihr uns alle noch mehr in Gefahr bringen! Beeil dich, steig ein.“ Er hatte ihn etwas unsanft an den Schultern genommen. Seiner Mutter entwunden, öffnete die Abdeckplane des LKWs und deutete ihm mit dem Kopf auf die Ladefläche zu steigen.

 

Drinnen im Halbdunkel hatte er Menschen gesehen. Unerwartet aus dem Dunkel gerissen. Er hatte sich noch einmal umgedreht. Seine Mutter gesehen, zusammengekauert an der Hausmauer sitzen, die Hände vor den Augen und ihren angstvollen Sing-Sang gehört: „ne! ne! ne! ….“. Der Onkel daneben, einen Arm um ihre Schultern gelegt.

 

Er stieg zu den Anderen. Kaum hatte er sich gesetzt, wurde die Plane wieder geschlossen. Alles versank im Dunkeln. Er kauerte sich zusammen. Umfasste mit seinen Armen die Knie und begann zu wippen. Vor und zurück, vor und zurück,… Nahm nichts wahr von den Menschen rundherum. Ein Gedanke durchzuckte ihn, mitten in seiner entsetzlichen Angst: ´Ich habe keine Familie mehr. Ich bin ab nun alleine´.

 

Die letzten zwei Jahre hatte er in  einem Haus zusammen mit anderen Jugendlichen gewohnt. Alle, wie er, ohne Familie!

 

…die Stille rundherum reißt ihn aus seinen Gedanken…

 

Erwartungsvoll richtet sich der Blick wieder auf ihn: „Hast du meine Frage verstanden? Du kennst Marlies und Jonas schon mehr als ein Jahr. Wenn du möchtest, kannst du in Zukunft in ihrem Haus wohnen. Sie möchten dich in ihre Familie aufnehmen. Bist du damit einverstanden?“

 

Wie man es von einem coolen Vierzehnjährigen erwartet, erwidert er, wie unbeteiligt, lässig: „Ja. Will ich. Deshalb bin ich hier.“

 

Er dreht sich um. Sie lächeln ihn erleichtert an. Er lächelt zurück und denkt: `Hoffentlich bemerken sie nicht, wie sehr ich mich freue. Und wie viel Angst ich habe.´

 

Erschienen im Antolgienband "Von Fluchten und Wiederfluchten" Herausgegeben von Artur Nickel im Geest-Verlag