halt geben vs. festhalten

Stellen wir uns vor, ein starker Sturm tobt. Mitten auf einem Platz steht ein gut verankerter Mast. Ein Mensch läuft in seiner Angst zu dem Mast und hält sich verzweifelt daran fest. Die Sturmböen toben, aber der Mast gibt ihm guten Halt. Es kostet ihm Kraft, aber er weiß auch, dass er dadurch Schutz hat.

Nach ein paar Stunden wird der Sturm weniger, aber immer noch weht ein starker Wind. Der Mensch ist zwar schon ganz müde von der Anstrengung, aber er möchte kein Risiko eingehen und klammert sich weiterhin an den Mast.

 

Die Angst steckt ihm in allen Knochen. Er ist froh, dass er noch lebt, und beginnt sich auszumalen, was alles passieren hätte können, wenn er den Mast nicht rechtzeitig gefunden und erreicht hätte.

Der Wind wird immer weniger und hört irgendwann ganz auf. Die Sonne kommt wieder heraus.

Der Mensch merkt dies anfangs gar nicht. Immer noch beschäftigen ihn seine Phantasien, was er für Glück hatte mit dem Mast, der das Schlimmste verhindert hat.

 

Er hält sich weiterhin fest.

 

Rund um ihn beginnt wieder das Leben. Das Chaos wird aufgeräumt, die Schäden beseitigt, um Verlorenes getrauert.

Die Welt beginnt sich neu zu ordnen.

 

Der Mensch am Mast kann dies sehen, aber keine Erleichterung verspüren, schon gar keine Freude.

 

Er ist nun damit beschäftigt, die anderen in Gefahr zu sehen, da sie ja nicht wissen können, wann wieder ein derartiger Sturm kommen könnte.

Er beschließt jedenfalls, seinen Mast nicht mehr zu verlassen, der ihm diesmal das Leben gerettet hat. Wer weiß, ob er nochmals so ein Glück hat und rechtzeitig Halt und Schutz finden kann.

 

Menschen, kommen vorbei, um ihn zu beruhigen und ihn zu ermuntern, doch wieder am Leben teilzunehmen.

Er kann mit der Zeit kurz los lassen, um sich ein paar Meter vom Mast wegzubewegen. Aber er braucht die unbedingte Sicherheit, den Mast in Griffweite zu haben. Das testet er in regelmäßigen Abständen. Versichert sich, dass er immer noch stabil und fest hier steht und er ihn spüren kann, sobald er ihn umfasst.

 

Er hat viele Argumente, warum es unmöglich ist, den Mast und den Platz mit dem Mast zu verlassen.

All seine Gedanken drehen sich darum, was passieren könnte, wenn er weg ginge und wiederrum so ein starker Sturm kommt.

Dieses Risiko möchte er keinesfalls eingehen.

Lieber alleine und nur auf einem Radius von einigen Metern leben.

In vermeintlicher Sicherheit.

 

Halt ist gut.

Festhalten auf Dauer ist ein Schaden für uns.

Genauso ein Schaden, wie immerzu festgehalten zu werden.

 

Es gibt Situationen im Leben, wo uns Halt hilft, ja wo wir sogar Halt brauchen. Als Kind und später, wenn uns das Leben vielleicht massive Herausforderungen schickt.

 

Halt kann uns ein Mensch, die Arbeit, Religion und vieles mehr,  geben.

All das, kann Unterstützung sein, um schwierig(st)e Lebensphasen zu überwinden.

 

Das Dilemma beginnt, wenn wir beim Gefühl des Überwindens/Überlebens/Überstehens bleiben und damit auch eng mit dem Erlebten zusammengekettet bleiben.

Dann gelingt es nicht, dass wir uns irgendwann davon lösen und wieder zu uns selbst zurückkehren. Zum Leben.

Zu unserem Leben.

Wir bleiben in der Abhängigkeit.

 

Das zeigt sich dann oft in Arbeitssucht, Abhängigkeit von einem Menschen oder zum Beispiel im totalen Abtauchen in eine Religion.

Diese Abhängigkeiten verhindern, dass wir unsere Gefühle zu dem Erlebten spüren können (Angst, Zorn,…). Es geht in der Folge dann hauptsächlich darum, möglichst keine Gefühle zu spüren oder die Gefühle einzudämmen. Manchmal zusätzlich mit Alkohol oder anderen Substanzen.

 

Menschen die unter ständiger Anspannung leben, die hinter jeder Ecke Gefahr vermuten oder sich ständig vor dem großen Sturm wappnen.

 

Menschen, die irgendwie überleben, jedoch das Leben schon lange nicht mehr leben.

 

(3.5.2020)