zukunft- eine geschichte über liebe, das tragische leben und von einem mutigen mädchen

Ich bin mit Mara im Schwimmbad. Als wir beim Drei-Meter-Brett zum Springen anstehen, sehe ich ihn zum ersten Mal. Ein paar Meter hinter mir. Muskulöser Körper, schwarze Haare, sonnengebräunte Haut. Er blickt auf und unsere Blicke treffen sich. Kugelrunde, braune Augen. Ich starre ihn an. Er grinst. Meine Freundin fasst mich am Arm. „Komm wir sind dran.“ Ich stolpere, als ich die Stufen hinaufsteige. Ich ärgere mich. Er soll mich nicht für tollpatschig halten. Mara steht schon vorne am Brett und springt. Ich gehe nach vorne. Rechte Hand an die Nase. Zuhalten. Springen. Wie gerne hätte ich einen richtig tollen Sprung gekonnt. Mara wartet im Wasser auf mich. Gemeinsam schwimmen wir an den Rand und klettern aus dem Becken. „Warte“, sage ich.  Ich sehe, wie er die Stiegen raufsteigt. Er springt einmal kräftig auf das Brett und macht einen perfekten Salto. Als er auftaucht, treffen sich unsere Augen zum zweiten Mal. „Sarah, komm endlich! Wer ist das?“, fragt Mara. „Ich weiß nicht, aber er schaut irgendwie süß aus.“ Wir gehen zu unseren Decken. „Was glaubst du, wie alt er ist?“ „Keine Ahnung! Soll ich ihn fragen?“ Ich kichere. „Nein, lass das.“ „Wär doch toll, wenn du auch endlich einen Freund hättest, dann können wir öfter was zu Viert machen.“, meint Mara. Stimmt, denke ich. „Ich hol mir ein Eis. Magst du auch eines?“, frage ich. „Nein danke, ich schau den vorbeiziehenden Wolken zu. Die schauen genial aus heute.“

Ich gehe am Schwimmbecken vorbei. Mein Herz macht einen Hüpfer. Er steht dort. Schleckt an einem Eis. Eindeutig Schoko-Erdbeere. Das sind auch meine Lieblingssorten. Kurz bevor ich an ihm vorbeigehe, blickt er auf. Ich spüre, wie meine Wangen rot werden. Schnell an ihm vorbei. Nur nicht mehr umdrehen. Ich gehe zum Stand. Bestelle eine Portion Schoko-Erdbeere. Als ich mich umdrehe, stoße ich beinahe mit ihm zusammen. „Ah, auch Erdbeer-Schokolade!“, sagt er. „Ich? … Ja ….“ Mehr bringe ich nicht heraus.

„Wenn du magst, kann ich dir einen Salto lernen.“ „Echt?“ Schmetterlinge im Bauch.

„Setzen wir uns da auf die Bank?“, fragte er, „ich bin übrigens Amir.“ „Sarah … Woher kommt dein Name?“ „Mein Vater ist Pakistani.“

 

Tagebucheintrag am 2.August 2012

 „Ich habe mich verliebt. Amir. Er hat soooo schöne Augen. Fast 19. Er geht in die Maturaklasse einer technischen Schule. Mara findet ihn auch nett. Trainiert Turmspringen. Will mir Salto beibringen. Hoffentlich wird das nicht peinlich. Haben urnett gequatscht.  So ein schöner Tag heute!!!! Haben uns für morgen wieder verabredet.“

 

Wir verbringen fast jede freie Minute miteinander. Amir muss viel lernen. Ich plage mich mit Spanisch in der 7. Klasse. Ich sehe ihm oft beim Training zu. Warte auf ihn, damit wir danach gemeinsam zu ihm oder zu mir heimgehen können. Wir haben den gleichen Musikgeschmack. Amir versteht sich super mit Mara und Thomas.

Ich kann tatsächlich in der Zwischenzeit meinen Kopf unter Wasser geben, ohne mir die Nase zuzuhalten. Ein Sprung vom Beckenrand mit dem Kopf voraus geht auch schon. Einen Salto vom 3-Meter-Brett schaffe ich noch nicht. Aber Amir ist ein geduldiger Lehrer.

 

14. Dezember 2012

„Ich bin so glücklich. Mit Amir läuft es toll. Sogar mein Bruder findet ihn cool. Ein Wunder. Auch Mama und Papa  mögen Amir. Sie scheinen endlich zu kapieren, dass ich erwachsen werde. SUPER!! So kann es ewig weiter gehen. Hoffentlich schaffe ich Spanisch. Ein Fünfer im Zeugnis wär echt blöd;-(  Freue mich schon auf Weihnachten und die Ferien. Endlich chillen und viiiiiiiiiiel Zeit mit Amir.“

 

Spanischtest. Ich bin nervös. Ich schlüpfe in meine Jeans. Mein Lieblingsblümchenkleid darüber. Das Handy piepst. Amir: „alles gute für den Test … du machst das schon.“ „Danke. Bussi. Muss mich beeilen.“ Als ich im Badezimmer stehe und gerade meine Wimpern tusche, piepst es wieder. „Ok. Ich hol dich um 18 Uhr. Davor Training und lernen mit Bastian…“  Stimmt, heute muss er ja für Elektrotechnik lernen. Da Bastian einige Kilometer entfernt wohnt, borgt er sich das Auto von seiner Mutter aus. Anschließend wird er mich abholen. Wir wollen mit Mara und Thomas ins Kino.

Als ich am Frühstückstisch sitze, schreibe ich schnell zurück: „ok, bis dann“.

Der Tag verfliegt. Die Spanischschularbeit ist schwer. Auf der Heimfahrt mit dem Zug blödle ich mit Johanna. Sie ist erst seit kurzem in meiner Klasse. Mit ihr kann man so wunderbar Quatsch machen. Lachen, bis die Bauchmuskeln wehtun.

Vom Bahnhof nach Hause gehe ich recht schnell. Es ist nebelig und kalt. Seit Tagen gibt es keine Sonne. Ich denke kurz an den Frühling, als ich an unserer Gartenhecke vorbeigehe. Ich liebe es, wenn diese Ende März schon aus der Ferne gelb leuchtet. Zu Hause angekommen finde ich, wie fast jeden Tag, einen Zettel von meiner Mutter am Kühlschrank. „Essen steht am Herd. Hab einen schönen Nachmittag. Bussi M“

Nach dem Essen lege ich mich kurz auf die Couch. Kopfhörer rauf. Katie Malua.  Ich bin wohl ein wenig eingenickt. Also ich auf die Uhr schaue ist es 16:30.

Schnell noch ein SMS an Mara: „müde … noch Aufgaben … freu mich … bis später. wir holen euch ab.“

Die Antwort kommt sofort: „super! sitze am PC … blödes Referat! bis dann“

„halt durch! Bussi“, schicke ich noch zurück.

„jaaaaaaaaa eh;-)“, kommt von Mara.

„hab dich lieb! hoffe, ihr lernt brav;-) bis dann! Bussi“, schicke ich an Amir. Ich erwarte keine Antwort. Meist steckt er sein Handy in den Rucksack. „Wenn ich lernen muss, lenkt es mich sonst ab, wenn dauernd irgendwas reinkommt“, hatte er mir schon öfter erklärt, wenn ich mich beschwerte, dass er stundenlang keine Antwort schrieb. Trotzdem bin ich jedes Mal ein wenig enttäuscht. Mit den anderen Mädels lästere ich manchmal: „Burschen eben“.

 

Ich raffe mich auf und gehe in mein Zimmer zum Schreibtisch. Drehe den Computer auf. Ein Blick in Facebook. Bastian ist online.

Ich schreibe: „na ihr streber;-)“

„LOL, hab nur schnell was gecheckt“, kommt zurück.

„sag amir, dass ich ihm sms geschickt hab“

„ok“ Und weg ist er.

 

Dann erledige ich meine Hausübungen. Ein Blick auf´s Handy: „17:45“.

Ich sprinte ins Bad. Ein Blick in den Spiegel. Vielleicht noch ein wenig Kajal, denke ich.  Amir ist sicher gleich da. Er ist bekannt für seine Pünktlichkeit. Und er kann es nicht leiden, wenn ich nicht fertig bin. Ich putze mir noch die Zähne. Mir fällt ein, dass meine Eltern an den Dienstagen immer später kommen. In die Abstellkammer. Katzenfutter. Katzenschüssel auswaschen. Frisches Wasser auf die eine Seite, Futter in den zweiten Teil. Sie streichen ungeduldig um meine Beine. „Ja, ja, ich hab euch eh nicht vergessen.“

Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche. „17:58“. Ich muss grinsen. Jeden Moment wird es an der Türe läuten und ich bin schon fertig. Ich bin schon am Weg in den Vorraum. Überlege mir, ihn mit Schuhen und Jacke zu überraschen. Gehe wieder ins Wohnzimmer. Setze mich auf die Couch. „Man muss ja nicht übertreiben“, murmle ich.

 

Ein Blick aufs Handy. „18:03“ Innerlich stelle ich mir vor, dass ich einmal sagen könnte „Du bist zu spät, ich warte schon die ganze Zeit auf dich.“ Das wäre was Neues.

Ich öffne Facebook. „18:06“ Sehr untypisch. Noch dazu, wo er weiß, dass wir noch Mara und Thomas abholen müssen.

 

Bastian ist wieder online. „hi, wann ist amir weg?“

„kurz nach halb … machte stress wegen abholen“

„hmm noch nicht da“

„muss sicher langsam fahren, scheißwetter;-(…“

„stimmt“

 

Ich bleibe an einem Artikel über eine Tanzvorführung hängen. Beginne zu lesen. Unkonzentriert. Klicke mich durch die Kommentare. Mein Gott, denke ich, manche geben wirklich einen Schmarrn von sich. Ich nutze Facebook zwar regelmäßig. Selbst poste ich wenig. Ich will lieber vorsichtig sein. Auch das teile ich mit Amir.

 

Ich erschrecke. „18:20“. Er hasst es, wenn man ihn im Auto anruft. Ich tippe trotzdem auf „Favoriten“ und  „Amir“. Es läutet. Mindestens zehnmal.

 

Ich schreibe an Mara „bleibt in der Wohnung … amir noch nicht da… ka (=keine Ahnung) was los ist, erreiche ihn nicht … melde mich, wenn er endlich da ist“

Ich starre auf mein Handy. Was kann ich tun? Nichts. Warten. Es gibt bestimmt eine ganz einfache Erklärung. Aber wie konnte sie lauten? Mit fällt nichts Logisches ein.

Ich stehe auf und hole mir das Fernsehprogramm. Irgendwie ablenken. Gelingt nicht. Ich versuche meine Mutter anzurufen, obwohl ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Sie ist in ihrer Tanzstunde. Mein Vater beim Schach. Und sie drehen das Handy hundertprozentig immer ab. Sie sind sich darin einig, dass man sich nicht vom Handy terrorisieren lassen darf. Jetzt wo ich mit ihnen reden will, finde ich das noch blöder, als sonst auch schon. Also rufe ich meine Oma an. Als sie sich meldet, sprudle ich los „Hallo Omi, ich warte schon seit einer halben Stunde auf Amir. Du weiß, wie wichtig ihm Pünktlichkeit ist. Was soll ich tun?  Er hebt nicht ab. Er ruft mich nicht zurück.“ „Hey, hey, stopp, liebe Sarah, bestimmt gibt es eine harmlose Erklärung dafür.“ Ich bin froh, ihre beruhigende Stimme zu hören. „Aber Omi, du kennst ihn. Er hasst Unpünktlichkeit … und warum meldet er sich nicht? Er war vorher bei Bastian lernen. Er ist dort um halb sechs weg. Da stimmt doch was nicht! Was ist, wenn ihm was passiert ist?“, frage ich kläglich. Ich bin den Tränen nahe. „Vielleicht hat er zu Hause was vergessen und hat einen Umweg gemacht. Ruf doch mal bei seinen Eltern an.“ „Ok Omi, mach ich. Ich ruf dich gleich wieder an. Bitte bleib beim Telefon, du weißt, ich kann Mama und Papa heute Abend nicht erreichen.“

 

Ich lege auf. Im gleichen Moment läutet es. Mara. „Hi!“ Die Tränen lassen sich nicht länger zurückhalten. „Was ist denn los?“, fragt sie. „Amir ist immer noch nicht da. Ich versteh das nicht. Ich hab so Angst, dass ihm was passiert ist.“ „Bestimmt hat er eine gute Ausrede. Du weißt eh, Burschen.“ Ich sehe richtig, wie sie dabei ihre Augen verdreht. „Nein Mara, du weißt, dass Amir und Unpünktlichkeit nicht zusammenpassen. Ich ruf jetzt bei seinen Eltern an. Ich geb dir Bescheid.“ „Ok“, sagt Mara leise, „wird schon alles gut sein, reg dich nicht auf.“ „Wie kannst du sowas sagen? Du kennst Amir.“ Ich lege kommentarlos auf.

 

Ich suche im Handy. „Amir Mama“. Tippe drauf. „Hallo Sarah!“, kommt nach dem zweiten Läuten, „was ist los? Ich dachte, ihr wolltet ins Kino?“

 

„Ja, hallo, aber Amir ist noch nicht bei mir aufgetaucht. Ich  wollte fragen, ob er vielleicht noch mal zu Hause war? Er ist vor einer Stunde von Bastian weg!“ Ich weine jetzt hemmungslos. „Oh Gott … nein … ich bin heute schon früher heim gekommen. Hier war er nicht. Ich habe mir keine Gedanken gemacht, weil ich ja wusste, dass er direkt zu dir fahren wird. Wo könnte er denn stecken? Ich versteh das nicht…“ Ich versuche mich zusammenzureißen, was mir nicht gelingt.

 

„Bei mir klopft gerade jemand an. Irgendwer versucht mich zu erreichen. Ich ruf dich gleich zurück!“ Sie legt auf.

Die Katzen streichen um meine Beine. Instinktiv streichelt meine Hand ihren Rücken entlang. Sie spüren die Aufregung. Ich stehe auf, um mir ein Taschentuch zu holen und starre die ganze Zeit auf´s Handy. „Ruf endlich an! Bitte, bitte Amir!“, flehe ich innerlich.

 

Es läutet. „Amir Mama“ lese ich am Display. Ich wische mit dem Zeigfinger über den Pfeil.

„Ja?“ „Sarah, es war ein Sanitäter. Sie haben in Amirs Handy mich als Notfall-Nummer gefunden“, höre ich Amirs Mutter mit seltsam tonloser Stimme. „Oh nein!“ entfährt mir ein Schrei. „Sie bringen ihn ins Krankenhaus. Sie mussten ihn aus dem Auto befreien. Er ist mit einem anderen Auto zusammengefahren. Wir fahren jetzt ins Krankenhaus.“

Mein ganzer Körper bebt. „Könnt ihr mich mitnehmen? Ich bin alleine zu Hause. Ich weiß nicht, wann meine Eltern kommen.“ „Ja klar, wir sind in zehn Minuten bei dir!“ „Gut.“

Ich bemerke plötzlich, dass ich bereits im Vorraum stehe. Als ich in die Jacke schlüpfe, fällt mir ein, dass ich meinen Eltern einen Zettel hinterlassen muss, sonst würden sie sich Sorgen machen. Ich laufe in die Küche. Krame nach einem Post-it und Bleistift. Schnell kritzle ich: „Bin mit Amirs Eltern ins Krankenhaus. Er hatte einen Unfall. S“ Ich klebe den Zettel auf den Kühlschrank. Rein in die Schuhe. Schlüssel. Raus aus dem Haus. Vor die Gartentüre. Am Gehsteig bleibe ich stehen.

Ich tippe wieder auf „Favoriten“ und „Omi“. Fast augenblicklich hebt sie ab. „Amir hatte einen Unfall. Was ist, wenn er tot ist? Amirs Eltern holen mich ab. Wir fahren ins Krankenhaus.“ „Oh nein! Wie furchtbar! Aber wenn sie ihn ins Krankenhaus bringen, ist das gut. Da können sie ihm hoffentlich helfen. Ich drück euch die Daumen, dass es nicht so schlimm ist. Alles Gute. Ich werde gleich eine Kerze anzünden.“ Das macht Omi immer, wenn wir irgendwas Wichtiges oder Ernstes haben. „Danke Omi.“

Ich habe keine Kraft, auch noch Mara anzurufen.

Also schreibe ich ihr: „amir hatte einen unfall… fahre mit seinen eltern ins krankenhaus… weiß sonst gar nix! melde mich“

„oh gott … was ist passiert? … alles gute! …sag bescheid, wenn du was brauchst“

Gerade als ich es fertig gelesen habe, stoppt das Auto von Amirs Eltern neben mir.

 

Ich springe auf die Rückbank. „Hallo“, mehr bringe ich nicht heraus, bevor ich wieder schluchze. Im Rückspiegel sehe ich die roten Augen des Vaters. Die Mutter dreht sich vom Beifahrersitz zu mir um. „Hallo Sarah.“ Ihr rinnen die Tränen über die Wangen. „Anscheinend ist es in einer Kurve, außerhalb des Ortes passiert. Ganz in der Nähe von Bastian.  Der Nebel. Und die Straße war wohl etwas glatt, aber wir wissen genau, dass Amir immer langsam und vorsichtig fährt. Wir verstehen das nicht.“ Sie schüttelt den Kopf. „Er hat bestimmt keine Schuld“, sage ich.

Die restliche Fahrt verbringen wir schweigend. Mein Herz pocht wie verrückt, als wir auf den Parkplatz des Krankenhauses fahren.

Beim Aussteigen umarmt mich die Mutter. Amirs Vater geht mit schnellen Schritten voraus zum Eingang. Wir gehen ihm nach. Die Luft im Krankenhaus. Das Licht kommt mir so grell vor. Mir flimmert es vor den Augen. Nur nicht ohnmächtig werden, denke ich. Ich konzentriere  mich auf meine Schritte.

In der Unfallambulanz angekommen, geht der Vater zum Aufnahmeschalter. Eine Frau mit weißem Mantel kommt. „Ja?“ „Wir sind die Eltern von Amir Kalizdeh. Wo ist er? Was ist mit ihm?“, fragt Herr Kalizdeh. „Einen Moment.“ Und schon ist sie wieder verschwunden.

Kurze Zeit später erscheint ein Arzt. Dr. Pichelmann, lese ich auf seinem Schild, das auf der Hemdtasche steckt. „Wer sind sie?“, fragt er mich. „Das ist Amirs Freundin. Kann sie bitte mitkommen?“, fragt der Vater freundlich. Dr. Pichelmann nickt.

Er geht voraus durch die Tür und gleich rechts in ein kleines Zimmer. „Nehmen sie Platz.“ Er setzt sich hinter den Schreibtisch. Davor stehen zwei Sessel. An der Wand stehen noch weitere zwei. Amirs Vater nimmt einen davon und stellte ihn zu den beiden anderen. Er deutet mir mit dem Kopf, mich darauf zu setzen. Die Mutter setzt sich neben mich.

 

Sie platzt heraus: „Wie geht es Amir? Können wir zu ihm?“

„Frau Kalizdeh, das geht leider momentan nicht. Er wurde erst vor einer halben Stunde gebracht. Er ist momentan nicht bei Bewusstsein. Wir machen alle notwendigen Untersuchungen. Hat ihr Sohn irgendwelche Allergien?“ „Nein.“, antwortet die Mutter. Sie beginnt zu weinen. „ Ich verstehe das nicht. Wie konnte das passieren? Wird er wieder ganz gesund werden Herr Doktor?“ „Wir werden unser Bestes tun. Ich kann aber derzeit noch gar nichts sagen. Geben sie uns noch ein wenig Zeit. Er scheint ein paar Knochenbrüche zu haben, die nicht tragisch sind. Wir müssen aber schauen, warum er nicht ansprechbar ist.“ „Oh, Gott, was ist wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert?“, sagt Frau Kalizdeh. „Jetzt beruhige dich doch. Du hast doch gehört, Herr Dr. Pichelmann hat gesagt, sie wissen noch zu wenig. Wo können wir denn warten? Holen Sie uns gleich, wenn sie mehr wissen bitte!“, sagt Herr Kalizdeh leise zuerst zu seiner Frau und dann an den Arzt gewandt. „Ja, selbstverständlich. Sie können draußen warten. Holen sie sich inzwischen einen Kaffee. Es dauert sicher noch eine halbe Stunde, bevor ich ihnen Genaueres sagen kann.“

 

Wir stehen auf. Ich fühle mich wie in Watte eingepackt. Gehe hinter den Eltern her.

Wir setzen uns schweigend etwas abseits von den anderen Wartenden. Schräg vor mir sitzt eine Frau mit einem kleinen Kind. Das Mädchen sitzt auf ihrem Schoß und jammert. „Das tut so weh Mama.“ Sie hält der Mutter die Hand hin. „Der Herr Doktor wird sie gleich anschauen, ob sie gebrochen ist. Schau ich geb dir ein Bussi drauf.  Ist es schon besser?“ „Nein, es tut immer noch weh.“ Die Mutter streichelt ihr übers Haar. „Es wird bald aufhören.“

 

Ich wünsche mir auch von meiner Mama im Arm gehalten und getröstet zu werden.

Amirs Vater steht auf und verschwindet um die Ecke. Kurze Zeit später kommt er mit drei Flaschen Multivitaminsaft zurück. Er gibt seiner Frau und mir je eine. „Danke.“ Ich schraube sie auf und trinke. Dankbar für das Gefühl, das der kalte Saft in meinem Inneren hinterlässt. Ich will, dass Amir wieder gesund wird. Bitte, bitte, bitte, denke ich. Ich sehe ihn vor mir. Seine Augen. Sein Lächeln. Höre seine Stimme, wenn er mir ins Ohr flüsterte: „Ich liebe dich von ganzem Herzen, meine liebe Sarah“ Die Tränen kommen wieder.

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis uns der Arzt endlich zu sich ruft.

 

Tagebucheintrag am 19. Jänner 2013:

„ohhhh Gott. Amir hat ein Schädel-Hirn-Trauma. Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Sie müssen operieren. Wegen Blutungen und Druck im Kopf. Klingt absolut grauenhaft. Künstlicher Tiefschlaft? Was heißt das? Wie lange? Wird er jemals wieder gesund????? Der Arzt meint, er ist jung und sportlich, das kann helfen. Aber was, wenn nicht? Was, wenn die Verletzungen zu stark sind?

Jemand ist ihm reingefahren. Es hat ihn geschleudert und er ist gegen einen Baum geprallt!! Oh Gott … was hat er wohl gedacht in diesen Sekunden? Wie schrecklich!

Wie soll ich das aushalten? Ich liebe ihn doch so!“

 

In den letzten Monaten habe ich über vieles Nachgedacht. Über die Liebe zu Amir. Mein Leben. Wie schnell es vorbei sein kann. Was besser wäre, gleich zu sterben oder im Koma zu liegen. Oder ein Pflegefall zu sein. Ich bin oft traurig. Habe stundenlang geweint. Dazwischen bin ich zornig. Warum gerade Amir? Wie ungerecht. Er kann nichts dafür. Warum passiert das gerade mir? Traue mich auch nicht mehr zu lachen. Ständig denke ich, wenn Amir es nicht kann, steht es mir auch nicht zu, lustig zu sein.

Kurz nach dem Vorfall hatte Mara mir eine Psychologin empfohlen. Zu der gehe ich jede Woche. Ich merkte selbst sehr schnell, dass viele Menschen nicht wussten, wie sie mir gegenüber reagieren sollten. Das ärgert mich auch oft. Ich will normal behandelt werden. Ich will nicht ständig darüber reden, aber manchmal eben schon. Ohne dauernd mitleidige Blicke zu ernten. Oder ständig getröstet zu werden.

Ich habe viele Artikel im Internet über Schädel-Hirn-Trauma und über Komapatienten gelesen. Ich hab wieder damit aufgehört. Sie helfen mir nicht. Jeder Mensch ist anders. Bei meiner Psychologin kann ich weinen, wütend oder verzweifelt sein. Sie hört mir zu. Hält alles aus. Wie macht sie das nur, frage ich mich manchmal. Ich merke, wie die Situationen, die ich mit Amir erlebt habe, zunehmend verblassen. Dass ich mich manchmal nicht mehr so gut an seine Stimme erinnern kann. Ich schaue mir oft die Fotos am Handy an. Habe Sehnsucht nach seinen kugelrunden, braunen Augen.

 

Mein Tagebuch habe ich in den letzten Monaten gar nicht mehr herausgenommen. Heute wieder einmal:

28. Mai 2013

„Mein Leben hat sich total verändert. Fast jeden Tag seit dem 19. Jänner bei Amir im Krankenhaus. Er ist immer noch im Koma. Unfassbar. Nie hätte ich mir das vorstellen können. Seine Brüche an Schulter und Schlüsselbein waren schnell verheilt. Allerdings hatte er noch mehrere OPs. Immer wieder schwoll sein Gehirn bedrohlich an. Jetzt ist er schon lange stabil. Aber er wird nicht wach. Die Ärzte wissen auch nicht alles. Eine bittere Erkenntnis der letzten Monate. Sie sagen, wenn er wieder wach wird, hat er vermutlich starke Hirnschäden. Niemand weiß, was das bedeuten wird. Schwierig mit Amirs Eltern. Sie hoffen, dass er jeden Tag aufwachen wird. Sie fragen mich oft, ob ich zu ihnen zum Essen kommen will. Schule, Krankenhaus … dann will ich meine Ruhe. Manchmal geh ich hin. Ich kann ja nicht ständig nein sagen. Bin so froh, dass ich Frau Merker hab zum Reden.

Ich weiß nicht, wie mein Leben weiter gehen soll. Alles ist aus den Fugen geraten;-(( …“

 

Mara sagt immer öfter, dass ich wieder auf mein Leben schauen müsse. Was meint sie damit? Mein Leben ist nun einmal so. Ich habe es mir nicht ausgesucht. Was soll ich denn tun? Immer öfter steht diese große Frage vor mir!

Manchmal sehne ich mich danach, wegzugehen. Vielleicht ein Auslandssemester. Mit Johanna im Zug einfach wieder kichern. Ich schimpfe innerlich mit mir. Amir geht es so schlecht, dann kannst du doch nicht einfach Spaß haben.

Als ich das in der Therapiestunde anspreche, fragt mich Frau Merker, was Amir wohl dazu sagen würde. Das macht mich nachdenklich. Wir hatten früher schon darüber geredet, wie wichtig wir es fanden, dass jeder sein Leben zu einem Großteil weiterleben soll, auch wenn man zusammen ist.

 

Meinem Tagebuch vertraue ich meine Ängste an:

16. Juni 2013

„Es macht mir Angst, dass Amir ewig so daliegen könnte, ohne Reaktion.

Mindestens die gleiche Angst, wenn ich drandenke, er könnte aufwachen und ein Pflegefall sein. RIESENANGST!!!- er wird wach und ich bin weg! Im Ausland oder auf einer Party oder sonst wo … Was würde er erwarten? Was würde er tun, wenn er in meiner Situation wäre? Was soll ich denn tun? Was ist richtig? Was falsch? Warum muss gerade ich so eine schwere Entscheidung treffen????“

 

Ich sitze da. Die Tränen laufen mir über die Wangen. Mein Herz pocht.

Ich schlage mein Tagebuch auf und schreibe:

19. Juni 2013

 „Sitzen bleiben, gehen, sitzen bleiben, gehen?  …was soll ich machen? Kann mir niemand diese Entscheidung abnehmen?“

Spüre diese Zerrissenheit. Wie oft in dieser Situation, denke ich an den ersten Nachmittag.

 

25. Juni 2013

„Heute habe ich es ausprobiert. Ich war nicht im Krankenhaus. Mit Frau Merker ausgemacht, dass ich vorerst nur noch jeden zweiten Tag hingehen werde. Ich schäme mich vor Amirs Eltern. Es ist urschwer. Es fehlt mir auch. Aber ich spüre, es ist richtig.  War mit Mara im Kino. Wie in alten Zeiten. Nur das es nie mehr so sein wird, wie früher!“

 

Am nächsten Tag treffe ich Amirs Mutter im Krankenhaus. Erzähle ihr zögernd von meinem Entschluss. Sie sagt: „Sarah, wir verstehen, wenn du nicht mehr kommen möchtest. Du musst auf dein Leben schauen. Hab wieder Spaß. Du bist jung. Wir kümmern uns um Amir. Ich bin sicher, er würde das verstehen. Er würde nie von dir verlangen, dass du dein Leben wegen ihm aufgibst.“ Wir weinen beide eine Weile. Ich umarme sie und sage: „Danke.“ Ich fühle mich so erleichtert.

 

Jetzt fliege ich bald mit meiner Familie nach Amerika. Sie haben diese Reise gebucht, damit ich auf andere Gedanken komme. Ich habe beschlossen, heute das letzte Mal zu Amir ins Krankenhaus zu gehen. Für längere Zeit oder für immer weiß ich noch nicht.

Ich habe mit Amirs Eltern ausgemacht, dass sie mich sofort verständigen, wenn es etwas Neues gibt.

Ich weine wieder viel heute. Ich umarme Amir und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich habe dich sehr geliebt. Ich wünsche dir, dort wo du jetzt bist, das allerbeste. Verzeih mir, falls ich nicht mehr komme.“

 

In den nächsten Tagen habe ich das Gefühl, alles nur aus der Ferne wahr zu nehmen. Ständig denke ich, ich sollte sofort wieder ins Krankenhaus gehen. Ich darf Amir doch nicht so im Stich lassen.

Frau Merker sagt, dass das ganz normal ist. Das hilft etwas.

Ich bin auch froh, dass meine Freundinnen so rücksichtsvoll sind. Sie gehen mit mir weg. Halten es aus, dass ich nach zwei Stunden wieder heim will. Ich brauche Ruhe. Es ist mir zuviel nach so langer Zeit.

 

14. Juli 2013

„Morgen fliegen wir los. Ich freue mich schon ein wenig. Habe auch Angst, wie es mir gehen wird, so weit weg. Der Ortswechsel tut mir sicher gut. Aber was ist, wenn mit Amir in der Zwischenzeit etwas passiert? Ich werde wohl noch Zeit brauchen für den Abschied. Mir ist aber jetzt  klar, dass ich in erster Linie für mein Leben verantwortlich bin. Ich habe Amir geliebt. Liebe ich ihn immer noch? Ich kann es nicht sagen. Wir hatten wunderbare Monate zusammen. Diese Erinnerungen bleiben mir. Der Unfall und diese Monate bleiben auch ein Teil meines Lebens. Ich hab viel geweint. Ich war oft zornig und verzweifelt. Ich habe soviel über ernste Themen nachgedacht.

 

Nun DARF ich wieder MEIN Leben planen…. Spaß haben … mich an meinem Leben freuen!!!! … AUF IN DIE ZUKUNFT SARAH! …“